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The Line: Eine 170 km lange Zukunfts-Stadt in der Wüste Saudi-Arabiens
Laura Puttkamer27. Juli 20235 min read

The Line: Eine 170 km lange Zukunfts-Stadt in der Wüste Saudi-Arabiens


Müssen Städte immer Autos, Straßen und Kohlenstoffemissionen beinhalten? Müssen sie wirklich einen annähernd kreisförmigen Grundriss haben? Die zukünftige Stadt "The Line" in Saudi-Arabien schlägt einen komplett anderen Ansatz vor. Geht das "5-Minuten Konzept", alles  Lebensnotwendige in 5 Minuten zu Fuß zu erreichen, auf? Kann eine Stadt tatsächlich CO2-frei sein? Was ist "The Line" und "Neom"?


Was ist "The Line"?

"The Line", die 170 km lange Smart City in der saudi-arabischen Wüste, die vom US-Studio Morphosis entworfen wurde, hat in letzter Zeit für viele Schlagzeilen gesorgt. Im Oktober 2022 zeigten Aufnahmen des Luftbildunternehmens Ot Sky, dass die Arbeiten zum Bau dieser linearen Stadt begonnen haben. Der breite Graben für das Fundament ist bereits vorhanden und schafft Platz für ein unterirdische Verkehrssystem, welches die Stadt durchqueren wird. "The Line" wird bis zu 9 Millionen Menschen beherbergen. Diese Stadt soll aus einem 500 Meter hohen, einzigartig langen Gebäude bestehen, eine verspiegelte Fassade haben und nur etwa 200 Meter breit sein. Während ihrer Lebensdauer wird die Stadt voraussichtlich einen Netto-Nullverbrauch an Emissionen erreichen, sprich CO2-frei sein.

"The Line" wird hauptsächlich in die Höhe gebaut, um die BewohnerInnen und alles, was sie brauchen, unterzubringen. Dazu zählen Parks, Wasserfälle, fliegende Taxis und vielleicht sogar ein künstlicher Mond. Die vertikale Schichtung von Wohnungen, Büros, Grünflächen und öffentlichen Schulen sowie die ganzjährige Klimakontrolle aller Innen- und Außenbereiche ersprechen eine hohe Lebensqualität und sollen "The Line" in eine 5-Minuten-Stadt verwandeln (noch ehrgeiziger als das 15-Minuten-Stadtkonzept in Paris), in der alle lebensnotwendigen und qualitätssteigernden Orte mit einem kurzen Spaziergang erreicht werden können. Es wird keine Straßen und demnach auch keine Autos geben. Stattdessen wird ein Hochgeschwindigkeitszug die einzelnen Abschnitte der linearen Stadt miteinander verbinden und die BürgerInnen in nur 20 Minuten von einem Ende der Stadt zum anderen befördern. Offiziell heißt es, dass es keine Straßen, Autos oder Emissionen geben wird und dass "The Line" ausschließlich mit sauberer Energie betrieben werden soll.

Die geschätzten Baukosten für "The Line" belaufen sich auf 100 bis 200 Milliarden USD, andere Schätzungen gehen von bis zu 1 Billion USD aus. Der Plan wurde im Januar 2021 vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman angekündigt. Die erste Phase des Projekts soll im Jahr 2030 abgeschlossen sein.

Projekt Neom

Aber das ist noch nicht alles: "The Line" ist nur ein Teil eines viel größeren Projekts namens Neom, das 500 Milliarden USD kosten soll. Bei diesem umstrittenen Projekt, das den Tourismus und die Wirtschaft ankurbeln soll, werden 10 Regionen im Norden Saudi-Arabiens entstehen.

Neben "The Line" ist ein Skigebiet geplant, das von Zaha Hadid Architects, UNStudio, Aedas, LAVA und Bureau Proberts entworfen wurde. Dieses wird Teil der Sportstadt Trojena sein, die bereits als Ausrichter einer internationalen Sportveranstaltung, den Asiatischen Winterspielen, auserwählt wurde. Ein weiterer Teil von Neom wird den Namen Oxagon tragen. Dieser schwimmende Industriekomplex nördlich der Stadt Duma wird ein Zentrum für moderne Fertigung, industrielle Forschung und Entwicklung sein.

Sieht so die CO2-freie Stadt der Zukunft aus?

Die Entwickler preisen "The Line" als eine "CO2-freie Stadt" an. Die utopische Vision, die sich vom Roten Meer bis zur Stadt Tabuk erstreckt, hat jedoch bereits ernsthafte ökologische, wirtschaftliche und soziale Bedenken aufgeworfen. Zwar könnte "The Line" bis zu 460.000 Arbeitsplätze schaffen und das saudi-arabische BIP um schätzungsweise 48 Mrd. USD erhöhen, jedoch ist unklar, ob sie nach Zeitplan und im Rahmen des Budgets gebaut werden kann. Zwar wird der saudische Staat etwa die Hälfte der Kosten aus dem öffentlichen Investitionsfonds beisteuern, dennoch werden auch internationale Investoren benötigt.  

Die sozialen Kosten des Projekts sind hoch: Die Strecke hat bereits den Stamm der Howeitat vertrieben. Beamte verurteilten sogar drei ihrer Mitglieder zum Tode, als sie sich weigerten, ihre Häuser zu räumen. Diese überstürzten und strengen Maßnahmen verheißen nichts Gutes für die Zukunft. "The Line" ist jedoch auch die erste Stadt seit langem, die auf Menschen und nicht auf Straßen oder Autos ausgerichtet ist. Der Fokus auf FußgängerInnen und die Idee der "5-Minuten-Stadt" ist lobenswert. Andererseits werden in dem Projektvorschlag wichtige Faktoren wie Gemeinschaftsstruktur, Vielfalt der Haushalte, Demografie, Regierungsführung, individuelle Rechte oder religiöse Toleranz kaum erwähnt.

Dies gilt auch für das Klima: "The Line" betont zwar seinen emissionsfreien Ansatz, bei dem die Energie ausschließlich aus Sonnen- und Windenergie sowie aus Wasserstoff gewonnen wird, doch ist es nicht möglich, ein so hohes Gebäude aus kohlenstoffarmen Materialien zu bauen. Laut Philip Oldfield von der University of New South Wales wird der Kohlenstoff-Fußabdruck des Baus enorm sein, etwa 1,8 Gigatonnen CO2-Äquivalent in Glas, Stahl und Beton. Er fügte hinzu, dass die Stadt eine weitreichende Problematik für die angrenzenden Ökosysteme sowie die wandernden Tiere darstellen würde.  

Ist "The Line" wirklich eine Smart City?

"The Line" soll auch eine Smart City sein, in der künstliche Intelligenz die Stadt und ihre Bewohner überwacht. Sie wird Vorhersagemodelle und Big Data nutzen, um das tägliche Leben der BürgerInnen zu verbessern. Die EinwohnerInnen werden wahrscheinlich für die Übermittlung von Daten an "The Line" bezahlt. Die so genannte kognitive Stadt stellt so die Bedürfnisse der Menschen und die der Umwelt in ihren Vordergrund. Dies soll ein Konzept ermöglichen, um eine neue Art der digitalen Entscheidungsfindung zu schaffen, die individuelle Lösungen für die Herausforderungen der BewohnerInnen bietet. Künstliche Intelligenz wird das Herzstück von "The Line" sein und die Bereiche Energie, Wasser, Abfall, Verkehr, Gesundheitsversorgung und Sicherheit verwalten.

Die schlechte Menschenrechtsbilanz Saudi-Arabiens lässt jedoch nichts Gutes für eine verantwortungsvolle Datennutzung oder den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen erwarten, wie die Japan Times feststellte. "The Line" wird in der Tat eine Überwachungsstadt sein. Die Möglichkeit, für die Übernahme von Daten bezahlt zu werden, beeinträchtigt das Recht der Menschen auf eine freie Zustimmung zur Weitergabe dieser. Sie könnte die Praxis des Verkaufs persönlicher Daten aus Profitgründen normalisieren. Auch wenn die gemeinsame Nutzung von Daten definitiv Vorteile, wie z. B. automatische Gesundheitschecks bei immobilen NutzerInnen hat, sind die endgültigen Kosten dieses Verlusts der Privatsphäre noch nicht abschätzbar.

Letztendlich wird jede Zukunftsstadt Menschen brauchen, um zu gedeihen. Eine andere intelligente Stadt, die in der Wüste gebaut wurde, Masdar City in den Vereinigten Arabischen Emiraten, hat trotz ihres schönen Designs Schwierigkeiten, Einwohner zu finden. Ob die Post-Carbon-Vision von "The Line" Wirklichkeit werden kann, bleibt abzuwarten.


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Laura Puttkamer

Laura ist eine Stadtjournalistin, die sich auf inspirierende Geschichten von Lösungsansätzen aus der ganzen Welt konzentriert. Sie hat einen MSc in Global Urban Development und lebt derzeit in London.